Zeitgemässe Arbeitsbedingungen für Assistenzärzt:innen – Für einen Arztberuf mit Zukunft
Faire und zeitgemässe Arbeitsbedingungen für junge Ärzt:innen sorgen dafür, dass in unseren Spitälern gut ausgebildete, gesunde und motivierte Assistenzärzt:innen arbeiten. So kann sichergestellt werden, dass junge Ärzt:innen im Beruf verbleiben und die hohe Qualität der Gesundheitsversorgung auch für die Zukunft aufrecht erhalten werden kann. Ausgeruhte und motivierte Ärzt:innen erhöhen zudem die Behandlungsqualität für Patient:innen.
Im Jahr 2010 versuchte ich mich gerade am ersten Studienjahr der Medizin in Lausanne und wir diskutierten die Arbeitsbelastung unseres zukünftigen Berufs. Wir sprachen darüber, wie toll es doch wäre, wenn sich dieser mit unserem Privatleben vereinbaren liesse.
Sieben Jahre später, nach Abschluss des Staatsexamens, begann für mich der Ernst des Berufslebens eines jungen Arztes und damit auch die 50-Stunden-Woche, von der wir zuvor so viel gehört hatten. Die Gedanken zur Vereinbarkeit von damals wurden wieder präsenter, und tatsächlich ging es vielen Kolleginnen und Kollegen gleich wie mir. Sie wünschten sich eine ärztliche Tätigkeit, die es ihnen ermöglichte, ihr Privatleben aufrecht zu erhalten und trotzdem eine gute Ärztin oder Arzt zu sein. Bis dahin führte der Weg zu einem ausgewogeneren Berufsleben über ein Teilzeitpensum, welches jedoch eine verlängerte Weiterbildungszeit mit sich zieht. Die Realität war aber, dass zahlreiche Kliniken derartige Pensen auf Assistenz-Niveau gar nicht anboten.
Eine neue Vision musste her. Findige Basler Kolleg:innen gründeten eine Initiative, welche den Zeitgeist auf griff und tiefere Arbeitszeiten forderten. Diese Gedanken griff der Verband Schweizerischer Assistenz- und Ober – ärztinnen und -ärzte (vsao) auf und erarbeitete gemeinsam mit den Initiant:innen das 42+4-Stunden- Modell. Dieses sieht eine wöchentliche Dienstleistungszeit rund um die Patientenbetreuung von 42 Stunden vor, dazu mindestens 4 vier Stunden wöchentliche Weiterbildung.
Das Konzept würde es den jungen Kolleginnen und Kollegen erstmals ermöglichen, Privatleben und Beruf im 100%-Pensum unter einen Hut zu bringen. Gleichzeitig würde die konsequent eingeplante Weiterbildung garantieren, dass ärztliche Leistungen auch in Zukunft eine hohe Qualität bieten. So, wie wir es in der Schweiz seit jeher gewohnt sind.
Den Patient:innen bietet das 42+4-Stunden-Modell direkte Vorteile. Sie profitieren von jungen Ärzt:innen, die nicht ständig am Limit laufen, mitten im Leben stehen und die Lebensrealität ihrer Patient:innen kennen. Dank weniger Arbeitsbelastung sind sie noch motivierter, sich ihren Patient:innen mit Sorgfalt und der nötigen Aufmerksamkeit zu widmen. Dank strukturierter Weiterbildung gelangen sie mittels stetem Wissenszuwachs zielstrebig zum Facharzttitel.
Diese Ärzt:innen bleiben uns auch in Zukunft erhalten, denn sie werden mit 42+4 erleben, dass eine ärztliche Tätigkeit nicht zwangsläufig mit Ausbrennen einhergehen muss. Sie sind motiviert, kompetent und haben Verständnis für den Alltag derjenigen, die sie behandeln. Sie sind die Zukunft. Gestalten wir gemeinsam diese Zukunft!
Severin Baerlocher
Vizepräsident VSAO
Jetzt handeln für höhere Behandlungsqualität
Der ärztliche Nachwuchs wird stark belastet. Aktuelle Zahlen zeigen: Assistenzärzt:innen arbeiten durch-schnittlich mehr als 56 Stunden pro Woche! Eine solche Belastung ist ungesund, gefährdet die Behandlungs quali tät und geht auf Kosten der struktur-ierten Weiterbildung – aktuell erhält nur gerade ein Fünftel der Assistenz ärzt:innen die obligatorische Weiterbildungszeit von mindestens vier Stunden pro Woche. Ausserdem leidet die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Die Konsequenzen: Viele verlassen frühzeitig ihren Beruf, was den Fachkräftemangel beschleunigt und unsere Gesundheitsversorgung gefährdet.
Der Arztberuf muss attraktiv bleiben, um die Qualität unseres Gesundheitssystems langfristig zu sichern. Das erfordert faire und zeitgemässe Arbeitsbedingungen, die Erholung und Weiterbildung ermöglichen. So kann auch dem Fachkräftemangel entgegengewirkt und der frühzeitige Berufsausstieg verhindert werden.
Wir setzen uns deshalb für zeitgemässe Arbeitsbedingungen ein. Mit dem Arbeitszeitmodell 42+4 sollen Assistenzärzt:innen mit pro Woche maximal 42 Stunden Dienstleistung rund um die Patientenbetreuung und mindestens vier Stunden strukturierte Weiter-bildung eingeplant werden. Diese ist essentiell, da sie sich in der Facharztausbildung befinden.
Behandlungsqualität sichern
- Arztberuf attraktiv halten
Die hohen Qualitätsstandards im Schweizer Gesundheitswesen können langfristig nur gesichert werden, wenn es ausreichend ärztliches Personal gibt. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die alternde Bevölkerung und die medizinische Entwicklung wichtig. Dazu muss der Arztberuf attraktiv sein, damit genügend Nachwuchs ausgebildet werden kann. Dies ist nur mit zeitgemässen und fairen Arbeitsbedingungen möglich. Motivierte Ärzt:innen sollen nicht wegen schlechter Arbeitsbedingungen den Job aufgeben müssen.
- Qualitativ hochstehende Weiterbildung garantieren
Assistenzärzt:innen sind Ärzt:innen in Weiterbildung. Um ihren Facharzttitel zu erreichen, müssen sie einerseits die dafür erforderliche Zeit als Assistenzärzt:innen «abverdienen», andererseits müssen sie strukturierte Weiterbildungen besuchen. Gemäss einer aktuellen Umfrage erhalten nur rund 21% der Assistenzärzt:innen die erforderlichen mindestens 4h struk-turierte Weiterbildung pro Woche, ca. 53% erhalten 2h oder weniger. 42+4 gibt den Assistenzärzt:innen die Möglichkeit, die strukturierte Weiterbildung als klar definierten Bestandteil der ärztlichen Tätigkeit zu besuchen. Das verbessert die Qualität der Weiterbildung und damit die zukünftige Versorgungsqualität von uns allen.
- Sicherheit der Patientenbetreuung gewährleisten
Die heute gängigen langen Arbeitszeiten, regelmässig anfallende Überzeit und die Arbeit im Schichtbetrieb kann belastend sein und die Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Nur ausgeruhte Ärzt:innen sind gute Ärzt:innen. Eine Anpassung der Arbeitszeit und damit eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen ist deshalb dringend angezeigt. Ausgeruhte und motivierte Ärzt:innen behandeln Patient:innen besser und machen weniger Behandlungsfehler.
Gesundheit schützen
- Arbeitsgesetz einhalten
Das Arbeitsgesetz soll die Gesundheit der Arbeitnehmenden schützen, die durch starke Arbeitsbelastung und zu lange Arbeitszeit beeinträchtigt werden kann. Heute wird mit einer Dienstplanung nahe an der 50h Höchstarbeitszeitgrenze regelmässig gegen das Arbeitsgesetz verstossen. Mit dem Arbeitszeitmodell 42+4 können Verletzungen des Arbeitsgesetzes und allfällige gesundheitliche Konsequenzen für das Gesundheits-personal reduziert werden. Dienstplanende und auch Mitarbeitende erhalten dadurch mehr Flexibilität und Planungssicherheit.
- Gesunde Ärzt:innen sind gute Ärzt:innen
Überzeit, lange Arbeitszeiten und daraus resultierende Konsequenzen belastet die Arbeitnehmenden gesundheitlich. Studien zeigen, dass ab einer Arbeitszeit von 48 Wochenstunden die Konzentration und Belastbarkeit sinken und Gefährdungen für Patient:innen und Arbeitnehmende zunehmen. Das Arbeitszeitmodell 42+4 ist ein wirkungsvolles Modell, um Konsequenzen von Überlastung wie Burn-outs, psychische und physische Erschöpfung sowie Fehler bei der Patientenbehandlung zu vermeiden. Damit wird die Qualität der Gesundheitsversorgung langfristig garantiert.
Spitäler für die Zukunft rüsten
- Fachkräftemangel bekämpfen
Die Arbeitsbedingungen im Arztberuf müssen verbessert werden. Das ist die beste Medizin gegen den Fachkräftemangel. Bessere Arbeitsbedingungen reduzieren die Berufsausstiegsrate, was den Fachkräftemangel dämpft und Kosten spart bei Spitälern und im gesamten Gesundheitswesen. Mit besseren Arbeitsbedingungen bleibt der Arztberuf auch für zukünftige Generationen attraktiv.
- Rekrutierung vereinfachen
Spitäler haben Mühe, genügend qualifiziertes Personal zu finden. Junge Ärzt:innen entscheiden sich nach dem Studium gegen den Arztberuf oder steigen frühzeitig wieder aus, weil sie ausserhalb des Spitals bessere Arbeit-sbedingungen finden. Durch die Reduktion der Arbeitszeit auf 42+4 Stunden pro Woche wird die gesamte Branche und der Arbeitsplatz attraktiver und die Rekrutierung und Bindung von Fachpersonal erleichtert.
- Vereinbarkeit fördern
Angehende und junge Ärzt:innen legen viel Wert auf die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Die Arbeit im Spital beinhaltet lange Arbeitstage, Wochenend- und Nachtschichten, die Ärzt:innen auch zu leisten bereit sind. In diesem Kontext ist es jedoch wichtig, dass mit einer reduzierten Arbeitszeit und anderen Massnahmen die Vereinbarkeit trotzdem garantiert wird.
- Überzeit verhindern / Arbeitsgesetz einhalten
Spitäler können für Verstösse gegen das Arbeitsgesetz sanktioniert werden. Ein Ziel der 42+4-Stunden-Woche ist es auch, die Verstösse und daraus resultierende Sanktionen, welche einen Mehraufwand für die Spitäler mitbringen, zu reduzieren. Überzeit sollte auch im Spital die Ausnahme sein und darf nicht regelmässig entstehen.
- Ineffizienz verhindern
Das Arbeitszeitmodell 42+4 schafft für die Spitäler einen Anreiz, die verfügbare Arbeitszeit der Assistenzärzt:innen optimal zu nutzen. Heute gibt es in Kliniken oftmals noch veraltete Prozesse und Umstände, die zu Ineffizienzen führen. Mit einer besseren Nutzung der Arbeitszeit steigt auch die Arbeitszufriedenheit des Personals.
- Auslandsabhängigkeit reduzieren
Im Moment ist das Schweizer Gesundheitswesen stark von Fachkräften aus dem Ausland abhängig. Die Rekrutierung aus dem Ausland wird jedoch je länger, je schwieriger, da auch in den Nachbarländern die Arbeitsbedingungen verbessert werden, um die Fachkräfte im eigenen Land zu halten. Die Schweiz sollte mit besseren Arbeitsbedingungen das inländische Potenzial priorisieren und ausschöpfen. Damit können auch die Kosten des Medizinstudiums in der Schweiz ausgeschöpft werden.
Material zum Downloaden
Hier können Sie das Argumentarium und verschiedene Grafiken zu 42+4 herunterladen, um diese selber zu verwenden.
Ich will 42+4 an meinem Spital einführen. Wie soll ich vorgehen?
Für die Einführung der 42+4-Stunden-Woche braucht es zuallererst einen Konsens bzw. eine Entscheidung auf der Führungsebene einer Klinik oder eines Spitals. Zu beachten ist, dass es in erster Linie um eine Reduktion der Sollarbeitszeit geht und um eine hohe Priorität für die strukturierte Weiterbildung. Es gibt auch weitere gangbare Modelle als 42+4. Vor oder nach diesem Grundsatzentscheid ist eine solide Analyse der Ist-Situation gefragt unter Berücksichtigung der folgenden Fragen:
• Welche Sollarbeitszeit gilt aktuell?
• Welche Arbeitszeiten sind bei den Assistenzärzt:innen in der Realität üblich?
• Wieviel Überzeit fällt im Durchschnitt an?Warum?
• Wird die Zeiterfassung korrekt durchgeführt?
• Wie ist das Angebot der strukturierten Weiterbildung?
• Wie gut wird es von den Assistenzärzt:innen besucht?
• Warum wird es gut oder schlecht besucht?
Danach ist ein Beratungsgespräch mit einer geschulten Fachperson wichtig. Der vsao bietet eine kostenlose Dienstplanberatung an. Bei Interesse an einem Beratungsgespräch, kontaktieren Sie bitte Philipp Rahm ().
Für die Umsetzung gilt es folgende Punkte zu beachten:
Korrekter Umgang mit Überzeit
Die Zeiterfassung muss korrekt funktionieren und von allen Assistenz-ärzt:innen auch korrekt gemacht werden. Angefallene Überzeit darf nicht mit dem Gleitzeitkonto verrechnet werden. Wenn Überzeit anfällt, kann sie nur mit Zuschlag ausbezahlt oder durch in Absprache und mit dem Einverständnis der Betroffenen geplante Freizeit kompensiert werden. Weitere Informationen: Gewusst wie! Der korrekte Umgang mit den Arbeitszeiten
Bürokratie abbauen
Um die Sollarbeitszeit zu reduzieren ohne zusätzliche Stellen zu schaffen, muss die Effizienz gesteigert und unnötige Arbeiten weggelassen werden. Dabei hilft das Handbuch «Medizin statt Bürokratie» des vsao.
Weiterbildung einplanen
Bei der Dienstplanung muss konsequent darauf geachtet werden, dass im Durchschnitt mindestens vier Stunden pro Woche für strukturierte Weiterbil-dung reserviert werden.
Synergien nutzen
Ist das Angebot an strukturierter Weiterbildung an Ihrer Klinik / in Ihrem Spital zu klein? Vielleicht gibt es die Möglichkeit einer Kooperation mit einem anderen Spital in der Nähe, so dass die Assistenzärzt:innen Weiterbildungen in einem anderen Spital besuchen können. Auch Online-Weiterbildungen sind in diesem Fall eine mögliche Alternative.
Sprechen Sie unbedingt zuerst mit Ihrer vsao-Sektion. Diese weiss Bescheid, ob allenfalls bereits Verhandlungen mit dem betreffenden Spital laufen und kann Ihnen Tipps für das weitere Vorgehen geben.
Wenden Sie sich an die Dienstplanberatung des vsao. Sie kann weitere spezifische Tipps für Ihr Spital geben und je nachdem geeignete Ansprechpersonen vermitteln.
Suchen Sie Verbündete. Fragen Sie in Ihrem Umfeld bei den anderen Assistenzärzt:innen nach deren Bedürfnissen und Wünschen. Wenn Sie eine grössere Gruppe mit dem gleichen Anliegen sind, haben Sie viel bessere Chancen, gehört zu werden.
Wenden Sie sich wenn möglich als Gruppe/Klinik sowohl mündlich wie auch schriftlich an Ihre Vorgesetzten (Klinik- /Departementsleitende) mit Einbezug der HR-Abteilung. Formulieren Sie Ihren Wunsch nach einer Reduktion der Sollarbeitszeit auf Basis des 42+4-Stunden-Modells.
Eine Reduktion der Sollarbeitszeit ist einfacher zu erreichen und wirkt für die Spitalverantwortlichen weniger bedrohlich, wenn gleichzeitig an anderen Orten Arbeitszeit durch Prozessoptimierungen eingespart werden kann. Suchen Sie –allenfalls auch mithilfe des vsao-Handbuchs «Medizin statt Bürokratie» – nach Möglichkeiten, wie an Ihrem Arbeitsort Prozesse optimiert und Bürokratie abgebaut werden kann. Präsentieren Sie diese Ideen den Vor gesetzten und/oder
HR-Verantwortlichen.
Ein wesentlicher Punkt ist das Einfordern des korrekten Umgangs mit der Überzeit. Angefallene Überzeit darf nicht mit dem Gleitzeitkonto verrechnet werden. Wenn Überzeit anfällt, kann sie nur mit Zuschlag ausbezahlt oder durch in Absprache und mit dem Einverständnis der Betroffenen geplante Freizeit kompensiert werden.
Melden Sie sich mit Ihren Erfahrungen auch beim vsao-Zentralsekretariat. Erfolgsgeschichten oder auch weniger positive Erfahrungen teilen wir gerne mit allen Mitgliedern, die davon profitieren können.