«Eine chirurgische Weiterbildung ist in einer 42+4-Stunden-Woche möglich»
Zur 42+4-Stunden-Woche gibt es kritische Stimmen, gerade von Chirurginnen und Chirurgen. Wie eine Umsetzung dieses Arbeitszeitmodells auch in der Chirurgie möglich ist, erklärt Pascal Probst, Leitender Arzt Chirurgie in der Spital Thurgau AG, im Interview.
Oliviero Reusser, Mitarbeiter Politik und Kommunikation vsao
Wie sieht die durchschnittliche Arbeitszeit bei chirurgischen Fachpersonen in ihrer Abteilung aus?
Das wollte ich auch wissen, deshalb haben wir dies im letzten Jahr gemessen [2]. Unsere Chirurginnen und Chirurgen in Weiterbildung haben gemäss Vertrag eine 48-Stunden-Woche und halten diese während des Tagdienstes auf Station und auf der Notfallstation im Durchschnitt auch ein. Die Frage nach der Arbeitszeit greift aber zu kurz. In den für meine Masterarbeit geführten Interviews [1] hat sich herausgestellt, dass es in der gegenwärtigen Diskussion nicht so sehr um Arbeitszeit, sondern vielmehr um Weiterbildung geht. Die Weiterbildungszeit haben wir ebenfalls gemessen und es hat sich gezeigt, dass unsere Assistenzärztinnen und -ärzte innerhalb der 48 Stunden Arbeitszeit eine strukturierte Weiterbildung von durchschnittlich acht Stunden erhalten [2]. Dies ist sicher einer der Gründe dafür, weshalb sie zu den Zufriedensten im Land gehören [3].
Gesamtschweizerisch sieht es aber anders aus. Im Durchschnitt arbeiten Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte 56 Stunden pro Woche und bei Ersteren erhält nur rund ein Fünftel vier Stunden strukturierte Weiterbildung pro Woche. Zudem zeigt die vsao-Umfrage, dass viele ein Teilzeitpensum anstreben und fast niemand mehr als 50 Stunden pro Woche arbeiten möchte. Ist das umsetzbar?
Dass eine 48-Stunden-Woche inklusive strukturierter Weiterbildung möglich ist, zeigen wir in unserer Abteilung. Es sollte also möglich sein, dies auch an anderen Spitälern umzusetzen. Dass ein grosser Teil der zukünftigen Generation nicht mehr im Vollpensum arbeiten will, ist eine Realität – auch in der Chirurgie [4]. Die Umsetzbarkeit wird sich am Arbeitsmarkt zeigen. Wollen Chirurginnen und Chirurgen reduziert arbeiten, erhöht dies den Bedarf an Fachkräften. Dies wiederum steigert die Arbeitsbelastung der anderen, solange es zu wenig Bewerbende auf dem Markt hat. Ein Teufelskreis, der nur durchbrochen werden kann, wenn wir gesamtheitliche Lösungen schaffen, unter anderem in der Weiterbildung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die konsequente Fokussierung auf das Wesentliche und die Reduktion von administrativen Arbeiten.
Ist die 42+4-Stunden-Woche in der Chirurgie möglich? Und wenn ja, wie?
Ja, eine chirurgische Weiterbildung ist in einer 42+4-Stunden-Woche möglich. Wie bereits erwähnt, arbeiten wir in unserer Abteilung faktisch mit einer 40+8-Stunden-Woche. Auch der Blick über die Landesgrenzen hinaus zeigt, dass es möglich ist. In den meisten Ländern der EU haben Assistenzärztinnen und -ärzte eine 42-Stunden-Woche. Wichtiger als die Arbeitszeit ist für die chirurgische Weiterbildung aber der Caseload. Dieser wird aktuell auf zu viele Assistenzärztinnen und -ärzte verteilt.
Was braucht es, damit genügend Weiterbildung und OP-Erfahrung möglich ist, ohne das Arbeitsgesetz zu verletzen?
Es braucht drei Dinge: klare Strukturen und optimierte Prozesse in der Klinik, damit die angehenden Chirurginnen und Chirurgen für den OP freigespielt werden können, den expliziten Willen vom Kader, die nächste Generation gut auszubilden, sowie motivierte und leistungsbereite Assistenzärztinnen und -ärzte. Grundsätzlich muss das Arbeitsgesetz eingehalten werden – zum Schutz des ärztlichen Personals. Aber es gibt Ausnahmesituationen, in denen es vorübergehend und punktuell mehr zu leisten gilt. Zudem ist für mich klar: In sechs Jahren und in einer 42+4-Stunden-Woche kann «nur» die Basischirurgie erlernt werden. Wer Spitzenchirurgie betreiben will, wird an irgendeinem Punkt in der Karriere mehr Zeit investieren müssen. Das ist eine Realität, wie sie in jedem akademisch-kompetitiven Beruf und zum Beispiel auch in künstlerischen Berufen oder im Spitzensport vorkommt.
Wie wird die Weiterbildung in Ihrem Spital gehandhabt?
Wir nutzen die Möglichkeiten der Digitalisierung, um die administrative Belastung zu reduzieren. Zudem setzen wir auf der Station klinische Fachspezialistinnen und -spezialisten ein. Dies führt dazu, dass wir weniger Assistenzärztinnen und -ärzte im Team haben und diese mehr im OP arbeiten können, da sich der operative Caseload auf weniger Personen verteilt. Schliesslich haben wir innerhalb des Wochenprogramms fixe Veranstaltungen, die explizit der strukturierten Weiterbildung dienen, so etwa Weiterbildungsvorträge, Morbidity-Konferenzen, Journal Club und Weiteres. Wenn wir Kaderärztinnen- und Ärzte dann noch während mindestens zwei Standardoperationen pro Woche bei Assistenzärztinnen und -ärzten aktiv instruieren, kommen diese ohne Mühe auf mindestens vier Stunden strukturierte Weiterbildung.
Wieso gibt es so erbitterten Widerstand gegen die 42+4-Stunden-Woche aus gewissen Kreisen?
Weil viele in der 42+4-Stunden-Woche den Versuch sehen, aus der freien ärztlichen Berufung einen Standardjob zu machen. Da wird es emotional. Durch gewisse Medienberichte konnte der Eindruck entstehen, dass Kaderärztinnen und -ärzte, die eigentlich sehr gerne in der Weiterbildung tätig sind, Teil des Problems sind. Das hat deren Widerstand gefördert. Was es braucht, sind weniger Emotionen und mehr Fakten. Es ist klar, dass es ein Bedürfnis der jüngeren Generation ist, weniger zu arbeiten. Das ist ein Fakt, das kann man gut finden oder nicht, es bleibt ein Fakt. Wenn man sich dem nicht stellt und proaktiv Massnahmen ergreift, wird man langfristig als Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt verlieren. Es ist aber genauso ein Fakt, dass Assistenzärztinnen und -ärzte punktuell mehr als zehn Stunden am Stück arbeiten können, ohne dass die Patientensicherheit gefährdet wird. Zudem gibt es berechtigte Sorgen um die langfristigen Konsequenzen einer 42+4-Stunden-Woche, die man seitens des vsao nicht ignorieren darf. Beispielsweise, dass sich so die Weiter- und Fortbildungszeit bis zur Spezialisierung verlängert, wodurch Oberärztinnen und -ärzte erst später selbstständig werden, was wiederum die Arbeitslast des Kaders erhöht. Zudem gibt es immer mehr Chirurginnen. Viele davon haben mir in den Interviews im Rahmen meiner Masterarbeit erzählt, dass sie darauf angewiesen sind, früh in ihrer Karriere viel Kompetenz zu erwerben, um danach ihre Familienplanung umzusetzen.
Um allen gerecht zu werden, braucht es deshalb flexiblere Arbeitsmodelle. Hier ist es die Aufgabe der Kliniken und des vsao, die Bedürfnisse aller Beteiligten, also auch der Weiterbildenden, ernst zu nehmen und sich für die langfristigen Interessen des Berufsstandes einzusetzen. Denn die Assistenzärztinnen und -ärzte von heute sind das Kader von morgen!
Zur Person: Prof. Dr. med. Pascal Probst ist Leitender Arzt Chirurgie in der Spital Thurgau AG. Nach dem Staatsexamen in Zürich im Jahr 2009 habilitierte er 2017 an der Universität Heidelberg. Im Rahmen eines Executive MBA verfasste er eine Masterarbeit mit dem Titel «Die 42-Stunden-Woche in der chirurgischen Ausbildung in der Schweiz – eine Stakeholder-Analyse» [1]. Der 43-Jährige ist verheiratet mit einer Ärztin und hat zwei Kinder im Vorschul- und Schulalter.
- Probst P. Die 42-Stunden-Woche in der chirurgischen Ausbildung in der Schweiz – eine Stakeholder-Analyse. 2022. SRH, Riedlingen.
- Kovacevic D et al. Quality And Quantity of Structured Education for Surgical Residents at a Swiss Hospital. swiss knife. 2023; 20: special edition, 21.
- Umfrage 2022 «Weiterbildung Beurteilung durch die Ärztinnen und Ärzte in Weiterbildung». 2023.
- Fenner D et al. Career Goals of Surgeons in Switzerland. Langenbeck’s Archives of Surgery. 2023. Accepted.