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Replik in der Neuen Zürcher Zeitung

Der Arztberuf muss wieder Traumberuf werden

Junge Ärztinnen und Ärzte wollen mehr Zeit für Freizeit und Familie haben. Das heisst aber nicht, dass sie verweichlicht sind, wie in einem Gastkommentar kritisiert worden ist. Eine Replik.

Angelo Barrile, Präsident Verband Schweizer Assistenz- und Oberärztinnen und -Ärzte. Ursprünglisch erschienen in der NZZ vom 13.09.2023. 

Die Aussagen des Kardiologen Thomas F. Lüscher im Gastkommentar «‹Götter in Weiss› – aber was ist eigentlich mit dem Nachwuchs los?» (NZZ 22. 8. 23) entsprechen kaum dem, was junge Ärztinnen und Ärzte in ihrem Berufsalltag erleben. Statt danach zu fragen, was mit dem Gesundheitswesen los ist, wird das Problem bei der jungen Ärzteschaft gesucht.

Ja, die jungen Ärztinnen und Ärzte wollen neben ihrem Beruf mehr Zeit für anderes haben. Daraus zu schliessen, sie seien faul und verweichlicht, ist aber schlicht falsch. Wenn jemand seine Zeit lieber für sich, seine Familie oder andere Aktivitäten nutzt, anstatt wenig ergiebige Stunden im Spital abzusitzen, ist das nachvollziehbar. Zudem kann jemand auch in 46 oder 50 Stunden überdurchschnittlichen Einsatz leisten, Talent beweisen und Exzellenz erlangen, wenn man sie oder ihn denn lässt bzw. fördert.

Administrative Arbeiten

Assistenzärztinnen und -ärzte arbeiten auch heute noch durchschnittlich 56 Stunden pro Woche – 6 Stunden länger, als das Gesetz erlaubt. In dieser Zeit erhalten sie nicht einmal die Weiterbildung, auf die sie eigentlich ein Anrecht haben. Stattdessen verbringen sie den grössten Teil der Zeit mit administrativen Arbeiten.

Nur rund ein Viertel bis ein Drittel der Arbeitszeit ist der eigentlichen Patientenbetreuung gewidmet, wie verschiedene Studien zeigen. Das ist für junge Ärztinnen und Ärzte überaus frustrierend und ein Hauptgrund, weshalb (zu) viele den Beruf schon früh wieder verlassen.

Dazu kommt, dass der zeitliche und finanzielle Druck im Vergleich zu Thomas Lüschers Jungarztzeiten stark gestiegen ist. Die Bevölkerung ist gewachsen, wird älter, die Ansprüche der Patientinnen und Patienten steigen, Rückfragen der Krankenversicherungen sind ein ständiger Begleiter, die Verweildauer in den Spitälern sinkt, der Dokumentationsaufwand steigt, ohne dass die IT-Systeme damit Schritt halten. Das Tempo ist schlicht wesentlich höher und der Arbeitsalltag entsprechend dichter und stressiger geworden.

In einem Punkt sind sich alle einig: Die überbordende administrative Last in den Spitälern muss reduziert, die Prozesse müssen besser organisiert und die Digitalisierung muss vorangetrieben werden. Wenn dies konsequent umgesetzt wird, kann es gelingen, dass die gesetzliche Höchstarbeitszeit von 50 Stunden pro Woche eingehalten wird. Die Weiterbildung kann tatsächlich stattfinden, und vor allem können sich die Ärzte wieder hauptsächlich um die Patienten kümmern. Dann werden auch die Erschöpfungssymptome weniger.

Fehleranfälligkeit

Das Arbeitsgesetz mit der darin festgelegten Höchstarbeitszeit schützt im Übrigen nicht nur die Gesundheit des Personals, sondern auch die der Patienten. Übermüdete Menschen sind fehleranfälliger als ausgeruhte. Das Risiko für Fehler und Unfälle steigt bereits ab einer Schichtlänge von mehr als 9 Stunden und ab einer Wochenarbeitszeit von 43 Stunden stark an.

Wir dürfen ausserdem nicht vergessen, dass wir schon heute einen Ärztemangel haben. Die Schweiz bildet zu wenige Ärztinnen und Ärzte aus. Der heute breit praktizierte Rückgriff auf ausländische Fachkräfte ist ethisch fragwürdig und wird nicht für alle Zeiten funktionieren. Damit wir in der Zukunft genügend Fachpersonen haben, die die qualitativ hochstehende Gesundheitsversorgung langfristig sichern können, sollten wir den jungen Ärzten Sorge tragen.

Diese jungen, engagierten Menschen haben schon vor und während des Studiums bewiesen, dass sie leistungsfähig und hochmotiviert sind. Sie brennen für ihren Beruf und setzen sich gerade deshalb für Verbesserungen ein – damit der Arztberuf ein Traumberuf bleiben kann. Diese Energie sollten wir nutzen und gemeinsam für nachhaltige Arbeitsbedingungen einstehen. Nur so wird es gelingen, die dringend benötigten Fachkräfte weiterhin für den Beruf zu begeistern und sie im Gesundheitswesen zu halten.